Was ist eigentlich eine „kathartische Wirkung“? Das Thema Katharsis beschäftigt mich schon lange, sowohl im poetischen wie auch im psychologischen Sinn. Der Begriff stammt aus der griechischen Antike. Er wurde 335 v.Chr. von Aristoteles in seiner „Poetik“ geprägt und bezeichnet die „Läuterung der Seele von Leidenschaften“. Hat das für uns heute noch irgendeine Bedeutung? Ich finde: Ja, ganz besonders, wenn man schreibt.
Inhalt
Katharsis – Bedeutung und Definition
Katharsis bedeutet nach Aristoteles eine Art von Reinwaschung und Heilung, die Auflösung eines (inneren) Konflikts:
„Die Tragödie ist die Nachahmung einer […] Handlung […], die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.“
(Aristoteles „Poetik“, zitiert nach Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, S. 315)
Schon Aristoteles hat erkannt, dass Kunst maßgeblich dazu beiträgt, Menschen emotional durchs Leben zu tragen. Gut 2000 Jahre später in der Coronakrise spüren wir weltweit schmerzlich, wie wichtig uns Musik, Bücher und Filme sind – Geschichten, die uns mental über Wasser halten.
Die Psychologie hat den Begriff der Katharsis übernommen. Auch eine Therapie hat sich, grob vereinfacht, das Ziel gesteckt, eine Katharsis zu erreichen, also die Auflösung eines inneren Konflikts.
Aber zurück zur Literatur: Ich finde höchst interessant, dass in der antiken Dramentheorie die Notwendigkeit einer Katharsis für den Menschen vorausgedacht wurde.
Schon bei Aristoteles war klar: Durch Stellvertreterhandlungen (auf der Theaterbühne) werden Emotionen beim Publikum erreicht und gelöst, sodass das Publikum diese gelernte Emotionsüberwindung auch im Alltag einsetzen kann. Das finde ich enorm wichtig, denn es unterstreicht auch heute noch, warum Kunst so wichtig ist.
In der Kulturtheorie gehen – dies sei der Vollständigkeit wegen erwähnt – die Ansätze zur Katharsis auseinander: Bei Lessing kommt der Tragödie ein ethisch-moralischer Anspruch zu: Leidenschaften sollen in „tugendhafte Fertigkeiten“ (Metzler Lexikon der Literatur- und Kulturtheorie) verwandelt werden. Es geht hier vor allem um die Erziehung des Publikums.
Ein anderer Ansatz wird von J. Bernays postuliert: Er spricht von einem „Lustgewinn als Gefühl der Erleichterung und Befreiung“ (Metzler Lexikon der Literatur- und Kulturtheorie).
Ob diese kulturtheoretischen Spitzfindigkeiten für unser Schreiben relevant sind, muss jede:r für sich entscheiden. Der Punkt ist, dass die Begegnung mit einer (tragischen) Geschichte Identifikation eine des/der Zuschauer:in hervorruft und Emotionen auslöst, die überwunden werden. Idealerweise hält Kunst uns einen Spiegel vor und gibt uns Raum zur Reflexion. Übrigens, die Anmerkung sei hier gestattet:
Kein Konsum dieser Welt lehrt uns, mit uns selbst klarzukommen.
Gerade in einer Zeit, in der KI die Kunst zu übernehmen droht, ist es wichtig, das zu betonen: Kunst bringt uns dazu, uns mit uns selbst zu beschäftigen. Nichts anderes kann das, im Gegenteil: Konsum ist dazu gedacht, dich von dir selbst abzulenken; Social Media entfremdet uns von uns selbst und von anderen.
Nur die Kunst – ob du selbst Künstler bist oder Kunst konsumierst – holt dich zu dir zurück.

Emotionen im Zentrum der Katharsis
Emotionen sind für die Katharsis zentral. Die Wirkung von Literatur baut darauf: Das Hervorrufen von Emotionen hat einen großen Anteil daran, wie und ob wir einen Text, eine Geschichte wahrnehmen.
„Rührung, Mitleid oder Befreiung aufgestauter Affekte“ (Metzler Lexikon der Literatur- und Kulturtheorie) sind Brücken ins Herz der Leser:innen. In der Literaturwissenschaft wurde dies lange Zeit der Trivialliteratur zugeordnet. Etwas verschnupft wurden Emotionen in „anspruchsvoller“ Literatur nur zur Erreichung höherer Ziele geduldet. Seit den 1980er Jahren gab es da einen Wandel, der meiner Erfahrung nach aber in den Nullerjahren zumindest in der Germanistik noch nicht spürbar war. Die Amerikanistik ist da deutlich weiter, aber der Diskurs der Rezeption von Trivialliteratur führt an dieser Stelle zu weit. Bei Interesse schreib ich da gern an anderer Stelle was dazu – bitte kommentieren!
Katharsis und Schreiben: Über die Heldenreise
In der Autorenbubble auf Instagram, in der ich mich sehr aktiv bewege, werden immer wieder harte (emotionale) Themen angesprochen. Viele – darunter auch ich – verarbeiten mit ihrem Schreiben persönliche Erlebnisse, Schicksalsschläge, Missbrauch, Depressionen, Trauer und Verlust. Accounts wie @jan.michalsky_storyteller, @d_snow_author und viele andere sprechen regelmäßig tiefgreifende Fragen an, bei denen ich zu jeder einzelnen ganze Enzyklopädien verfassen könnte.
Eine wichtige Erkenntnis ist: Das Schreiben ist keine graue Theorie, sondern kann ein Weg zur Katharsis für Schreibende sein. Wir schicken stellvertretend unsere Protagonist:innen auf Heldenreisen und Abenteuer, damit sie Konflikte meistern. Der Weg eines Helden oder einer Heldin führt idealerweise zu einer Katharsis:
- der Ring wird zerstört und Mittelerde gerettet
- Voldemort wird besiegt und die Welt der Zauberer befreit
- das Liebespaar kommt endlich zusammen
- Angst wird überwunden
- der Mörder wird gefunden
Es gibt eine Vielzahl von Ausgangsmöglichkeiten, die mit ihren Genres variieren, und es gibt auch verschiedene kathartische Effekte: Es gibt immer eine persönliche Katharsis für den oder die Protagonistin und ihre Mitstreiter:innen, und es gibt eine globale Katharsis: Beim „Herrn der Ringe“ gibt es eine Katharsis für Frodo und für Mittelerde.
Das dicke Ende kommt zum Schluss? Happy Ends und Katharsis
Bedeutet Katharsis immer ein Happy End? Oder kann es vielleicht ein Ende sein, das einen Konflikt löst, indem der oder sie Protagonistin etwas lernt? Hier spielen natürlich Genrefragen rein. Eine Romanze muss mit einem glücklichen Paar enden, wohingegen ein Drama auch ein offenes Ende haben kann.
Die Katharsis richtet sich immer auf das Ende einer Geschichte: Wir erleben eine Entwicklung mit, leiden und kämpfen mit, steigen emotional ein, und am Ende gibt eine Auflösung oder Erlösung, die Katharsis.
Das Ende muss zum Buch passen. Lose Ende müssen vernäht sein, der oder die Prota müssen ein Level weiter sein in ihrer persönlichen Entwicklung.
Wenn wir als Schreibende eine Geschichte plotten, so gibt es doch immer einen zu lösenden Konflikt, eine zu erreichende Katharsis. Mein Prota George aus dem Projekt Halbdämon hat noch eine lange Reise vor sich, bevor er sie erreichen wird, aber für mich steht fest: Es wird ein Ende geben, mit dem er und auch Leser:innen (gut) weiterleben können. Ich finde das ganz wichtig, denn ich will, dass meine Leser:innen sich in meinem Buch „sicher“ fühlen, auch wenn es zwischendurch tiefe Abgründe und ausweglose Situationen gibt.
Dabei geht es mir nicht um ein absolut glückliches Ende, sondern darum, dass die Figuren sich hinsetzen und zurückschauen können, ohne dass da noch irgendwas offen ist. Sie müssen gut mit dem Erlebten leben können und ihren Frieden gefunden haben. Das ist das, was James Scott Bell im folgenden Zitat beschreibt – sein Büchlein „The last 50 pages“* empfehle ich ganz dringend als Lektüre:
If there’s one word that sums up the feeling readers crave in an ending, it’s satisfaction. […] this positivity does not only refer to the feeling one gets after a „happy“ ending. It also means that the ending feels right for that story.
aus: James Scott Bell, The last 50 pages, S. 4.
Wie ist bei dir? Machst du dir Gedanken darüber, wie du deine Held:innen und Leser:innen „entlässt“? Und an alle Lesenden: Bei welchem Buch hat euch das Ende besonders gut gefallen oder auch gerade nicht gefallen und warum? Ich bin gespannt!
Buch- und Lesetipps
Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Ansätze – Personen – Grundbegriffe*
James Scott Bell: The Last 50 Pages*
affiliate Links: Dieser Text enthält Partnerlinks, so genannte affiliate Links. Das bedeutet: Wenn du darüber etwas kaufst, erhalte ich eine kleine Provision, ohne dass dir dadurch Mehrkosten entstehen. Ich mache damit nicht den Wahnsinnsreibach, sondern das ist mehr ein Obulus der Anerkennung für die Arbeit, die in JEDEM meiner Artikel steckt – das sind je nach Thema 2-6 Stunden Zeit pro Artikel – an Fachartikeln sitze ich deutlich länger. Ich schreibe alles selbst und beschäftige KEINE KI mit dem Texten meiner Blogbeiträge. Seit 2025 wird Amazon als Partner nach und nach verschwinden – aus Gründen. Die Links sind mit einem * gekennzeichnet. Ich danke dir für deine Unterstützung! :*
Katharsis
Was den Begriff Katharsis betrifft, siehe auch die Nereide Galene: „Die von Unruhe befreite“
„Mit dem Begriff Galene ist eine von Unruhe befreite, in sich erfüllte Seele gemeint. In der Klassik ist eine solche Seele überdies von Affekten und Verwirrungen befreit. Gemäß Platon >> handelt es sich dabei um den Zustand, in dem die Seele in das Göttliche zu schauen vermag. Dabei ist die Galene die Wirkung der Katharsis. Die Katharsis (altgriechisch κάθαρσις kátharsis = deutsch -> „Reinigung“) definiert sich aus der Tragödie >>. Das Durchleben von Jammer >> / Rührung und Schrecken >> / Schauder führt demnach zur Reinigung der Seele. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von der Läuterung der Seele.“
Website zum Thema Galene: https://www.mythologie-antike.com/t1245-nereide-galene-mythologie-von-unruhe-befreite-seele-windstille
Sehr interessanter Artikel!
Für mich persönlich steht, wenn ich an den Begriff Katharsis denke, immer das stellvertretende Ausleben von Gefühlen im Vordergrund. Wenn ich z.B. mit einer Person leide, die in einer Erzählung ihr Kind verliert, und ich deshalb im härtesten Fall heule und schluchze, biete ich damit ja allgemein vielerlei Gefühlen und Ängsten ein Ventil. Und das kann dann durchaus befreiend wirken.
Ich habe das bisher immer nur so betrachtet und finde es daher super spannend – und auch richtig – dass Du das Thema hier etwas weiter fasst. Da habe ich noch nie so bewusst drüber nachgedacht 🙂
Hallo Michael,
es schließt sich ja nicht aus – im Gegenteil! Der Begriff deckt die Dramentheorie ab, aber eben auch die Psychologie – dein Beispiel zeigt, wie wir Katharsis im Alltag erleben können. In der Kunst „üben“ wir – als Training oder Heilung.
Das steht übrigens ganz entgegen der jüngsten Elon-Musk-Theorie, dass Empathie der Untergang der Menschheit wäre ;). Das Gegenteil ist der Fall: Wir müssten alle eigentlich viel mehr Empathie und Katharsis üben, viel mehr an den Lösungen unserer Konflikte arbeiten – dann hätten wir vielleicht weniger Gewalt, Drogen, Neid und Missgunst gesellschaftlich zu ertragen. — Dies als spontaner Gedankengang dazu. Da gab es so ein chinesisches Sprichwort: „Der Mensch bringt täglich sein Haar in Ordnung. Warum nicht auch sein Herz?“
Ich sehe Katharsis in Momenten des Alltags, aber auch in Geschichten oder Musik, die mich berühren. Beim Schreiben fließt davon sehr viel in meine Texte ein. Immer, wenn ich mit etwas Abstand draufgucke, erkenne ich das – das ist auch eine kleine Katharsis manchmal.
Man kann jetzt den Bogen sogar noch weiter spannen und die Frage stellen, ob KI zu so etwas wie Katharsis fähig ist – reflexhaft würde ich das gern verneinen, denn dafür braucht es ein Bewusstsein, aber ich weiß nicht, wie weit die mittlerweile sind und wie lange es noch dauert, bis sie ein Bewusstsein haben wird. Die Katharsis dazu könnte verheerend sein.
Gute Nacht 😉
Sonja